Das Heilpädagogische Reiten

In der Fachliteratur stellt das Heilpädagogische Reiten einen von drei Fachbereichen des Oberbegriffs „Therapeutisches Reiten“ dar. Diese drei Bereiche werden zwar getrennt voneinander dargestellt, dennoch sind sie in der Praxis erfahrungsgemäß nicht strikt voneinander zu trennen, es finden immer wieder Überschneidungen statt. So wie die Störungsbilder der Patienten in der Regel nicht isoliert auftreten, so kann man auch die Effekte der Übungen und Maßnahmen des Therapeutischen Reitens selten auf ein Teilziel reduzieren. Der Patient wird immer gleichzeitig auf mehreren Ebenen gefördert, auch wenn die Auswahl des Übungsangebots auf ein ganz bestimmtes Ziel hin geschieht. Die Ganzheitlichkeit der Methoden spricht für sich.
Unter dem Begriff Heilpädagogisches Reiten werden pädagogische, psychologische, psychotherapeutische, rehabilitative und sozio-integrative Angebote mit Hilfe des Pferdes bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit verschiedenen Behinderungen und Störungen zusammengefasst. Dabei steht nicht die reitsportliche Ausbildung, sondern die individuelle Förderung über das Medium Pferd im Vordergrund, d.h. vor allem die günstige Beeinflussung der Entwicklung, des Befindens und des Verhalten Im Umgang mit dem Pferd, beim Voltigieren oder Reiten, wird der Mensch ganzheitlich angesprochen: körperlich, emotional, geistig und sozial.

Beim Heilpädagogischen Reiten steht der artgerechte Umgang mit dem Pferd, die Kontaktaufnahme und eine ganzheitliche Förderung des Menschen durch das und mit dem Medium Pferd im Vordergrund, keinesfalls aber der sportliche Aspekt des Reitens an sich.

Der Begriff der Heilpädagogik greift demnach: von einer Heilpädagogik ist zu sprechen, wenn es bei der Bezeichnung ‚heilen’ nicht mehr nur im speziellen Sinne des ‚Gesundmachens’ geht, sondern im umfassenden Sinne der Verganzheitlichung und Sinnerfüllung des Lebens, das heißt der Fokus soll nicht auf dem behinderten Kind als solchem liegen, sondern in bedrohten oder beeinträchtigten Erziehungsverhältnissen, denen das Heilpädagogische Reiten reduzierend, erleichternd, positiv verändernd begegnen soll. Die Zielvorstellung des Heilpädagogischen Reitens soll auch Folgendes beinhalten: Durch die vielfältigen Erfahrungen soll zur Persönlichkeitsentwicklung beigetragen werden, es gilt, Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit zu verbessern, emotionale Stabilität zu gewährleisten und kooperatives Sozialverhalen zu erlernen. Dieser ganzheitliche Ansatz orientiert sich nicht an den vorhandenen Defiziten des Kindes, sondern bezieht alle Bereiche (Kognition, Emotionalität, Soziabilität, Motorik, Kommunikation) und Sinne (olfaktorisch, visuell, auditiv, kinästhetisch, haptisch) mit ein.

Die Grundlage

Die Gruddlage jeder Kontaktaufnahme zum Tier (in diesem Fall zum Pferd) ist das jedem Menschen angeborene Bedürfnis, mit Lebendigem, d.h. sowohl mit Menschen als auch mit Tieren, umgehen zu wollen. Diese natürliche Zuneigung, insbesondere zu Tieren, ist vor allem bei Kindern und Menschen mit geistiger Behinderung zu beobachten. Sie suchen Kontakt mit dem Tier, wollen es lieben und von ihm geliebt und gebraucht werden.

Die Motivation

Die Motivation sich mit einem Pferd einzulassen, ist in erster Linie die Möglichkeit des Reitens selbst, ein Sich-Tragen-Lassen und Getragen-Werden, was ein ursprüngliches, elementares Moment des Trostes und der Geborgenheit darstellt, es beruhigt und erheitert, wenn das Kind auf dem warmen Pferdekörper geschaukelt wird. Diese Freude, beim Pferd zu sein, es zu streicheln oder zu putzen, mit ihm etwas zu erleben, auf seinem Rücken zu sitzen und getragen zu werden hat zunächst die größte Anziehungskraft auf das Kind.

Die Rolle der Pferde

Das Verhalten der Pferde, insbesondere der Pferde, die im Heilpädagogischen Reiten eingesetzt werden und die im Zuge dessen eine spezielle Ausbildung absolviert haben, ist weitgehend konstant, also verlässlich und in Erziehungsprozessen. Pferde gestatten die Kontaktaufnahme weitgehend, sie sind einfühlsam und rücksichtsvoll, durch ihr feines Gefühl für Stimmungen merken sie z.B. sofort, wenn der Reiter Angst hat oder droht, herunterzufallen, und bleiben stehen oder gleichen aus. Das Pferd hat einen Sinn für Selbstbalance und versucht durch sogenanntes „antwortendes Verhalten“ eventuelle Gleichgewichtsschwierigkeiten auszugleichen und den eigenen Körper wieder unter den Schwerpunkt des Reiters zu bewegen. Andererseits zeigen sie auch ihre eigene Stimmung immer sofort und unvermittelt, sie zeigen ihre Angst, Ungeduld oder Unruhe als sofortige Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten, und nicht erst nach einiger Zeit, wie es Menschen manchmal tun. Dadurch fordern Pferde uns zum Reagieren, zum Handeln auf, dennoch zeigen sie dem Menschen gegenüber Zurückhaltung, sie sind nicht aufdringlich, man muss sie erst umwerben, um ihre Zuneigung zu gewinnen.
Dazu kommt, dass Pferde sich in ihrem Verhalten nicht verstellen können, sie kennen keine Rache, keine Strafe. So kann die Erfahrung gemacht werden, dass abweichendes Verhalten nicht unbedingt und nicht überall aggressive Reaktionen hervorruft. Pferde lassen in der Regel mehr Einwirkung zu als Menschen in unserer Umwelt, sie lassen sich berühren, streicheln, anfassen, man kann sich anschmiegen und wird auf ihrem Rücken getragen.
Das Bedürfnis nach Zuwendung und Angenommensein kann befriedigt werden. Durch den Umgang mit dem Pferd und dem Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu ihm, erleichtert durch sein artspezifisches Verhalten und die große Motivation, die von ihm ausgeht, kann die Persönlichkeitsbildung gefördert und die Kontaktaufnahme zu den Mitmenschen und zur Umgebung erleichtert werden.
Nicht nur bietet unser Partner Pferd also seit vielen Jahren eine Möglichkeit der Förderung im kognitiven, motorischen und sozialen Bereich, sondern auch die Möglichkeit der Integration, die viele Menschen mit Entwicklungsstörungen und / oder Verhaltensauffälligkeiten vor einer drohenden Isolation bewahrt oder aus einer bestehenden Isolation befreit.
Das Kind empfindet dem Pferd gegenüber Respekt, Angst, Bewunderung und Liebe. Diese Dinge sind pädagogisch bekannt als Voraussetzungen für Erziehungs- und Lernprozesse. Durch sein Verhalten kann das Pferd also Verhaltensweisen bei Menschen bewirken, die normalerweise verweigert werden würden. So kann im Idealfall Reiten und der Kontakt mit Pferden Sozialisationsprozesse aktivieren, weil soziale Fertigkeiten trainiert und das Bedürfnis nach Zuwendung befriedigt.

Förderung der Kognition und Sprache

Motorische Koordination und Körperbeherrschung setzen immer einen Lernprozess im Gehirn voraus. Planen, erfassen, vorstellen, verstehen findet im Gehirn statt und trainiert es somit. Tieren allgemein wird eine aktivierungssteigernde Wirkung nachgesagt, sie wirken als „kognitiver Katalysator“. Sie sind durch motivierende Faktoren ein attraktiver Stimulus zur Benutzung von Sprache.Auch steht ein schwaches Rechts-Links-Unterscheidungsvermögen in engem Zusammenhang mit dem Vertauschen von Buchstaben oder Wörtern im Satz. So wird bei Förderung der Kognition und Sprache der Schulung der Rechts-Links-Wahrnehmung beim Reiten deshalb zugleich der richtige Satzbau geübt: Reiten und Sprechen haben gewisse fundamentale Vorgänge gemein. Durch die Reifung motorischer Funktionenauf dem Pferd und durch häufiges Üben von Links-Rechts-Bewegungen zur Erfassung der Beziehung von Lateralität und Richtungsorientierung im Raum werden auch Buchstaben und Wörter weniger vertauscht. Die Übertragung des gleichmäßigen, reibungslosen Rhythmus’ auf dem Pferderücken hat wie schon bekannt Auswirkungen auf die Muskulatur. Dieser Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung gehört ebenso zum Grundgerüst von Artikulation und Sprechen wie zu dem des Bewegungsapparates.

Förderung des Sozialverhaltens

Heilpädagogisches Reiten in der Gruppe mit mehreren Kindern, die sich gegenseitig ergänzen und voneinander lernen können, fördert kooperatives Verhallten. Konkrete Aufgaben werden gemeinsam gemeistert, z.B. die Pflege der Pferde, Vorbereitungen für das Reiten, Aufgaben werden verteilt, der Ablauf und die Übungen werden gemeinsam ausgehandelt. Diese Übungen sind meistens so angelegt, dass sie ein Zusammenwirken und ein sich gegenseitiges Helfen der Teilnehmer erfordern. Kontaktschwache und initiativarme Kinder werden so sozusagen zur Kooperation gezwungen, um an ihr Ziel, sprich auf das Pferd zu gelangen. Die anfangs unter Umständen unfreiwillige Zusammenarbeit kann nicht selten in freundschaftliche Beziehungen übergehen, da jede Kooperation eine unmittelbare positive Erfahrung nach sich zieht, nämlich den direkten Kontakt zum Pferd. Weitere zu nennende positive soziale Verhaltensweisen können sein:

  • „Helfen und sich helfen lassen (für das Pferd eine „existentielle Lebensnotwendigkeit“, von Menschen als Zuwendung empfunden, ebd., 169)
  • Eingliederung der Ich-Ansprüche ins Gruppengeschehen
  • Ruhiges Verhalten
  • Respektieren der Grenzen des anderen durch die Erfahrung der eigenen Leistungsgrenzen
  • Reifung des Verständnisses dafür, dass das Pferd als organisches Wesen nicht pausenlos wie eine Maschine einsetzbar ist (Rücksichtnahme)
  • Das Belohnen guter Dienste, die das Pferd leistet“

Ganzheitlichkeit der Förderung

Kognitive, sensomotorische und soziale Fertigkeiten werden relativ schnell erlernt. Es wird vom lerntheoretischen Prinzip der Verhaltensverkettung ausgegangen: „Ausgehend von einer motivierenden, ein Bedürfnis befriedigenden Zielhandlung – hier das Sich-Bewegen am und auf dem Pferd – können vor- und nachbereitende Handlungen aufgebaut werden. Die einzelnen Förderungsbereiche und –Möglichkeiten lassen sich nicht voneinander trennen, das Kind wird gleichzeitig auf mehreren Ebenen gefördert, selbst wenn nur ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt wird.

Reiten und der Umgang mit dem Pferd enthält eine unerschöpfliche Fülle therapeutischer und erzieherischer Mittel…. Die volle Wirkung… ergibt sich nur, wenn das Reiten die Pflege des Pferdes und die Sorge für sein Wohlergehen mit einschließt. Zum Reiten gehört ferner der Reiterhof mit einer je eigenen Geselligkeit und einem Umgangsstil, der ihn prägt und ihn zu einem Ort macht, an dem man sich gerne aufhält und auf den man sich freut.